Wie entscheide ich mich richtig?
In drei Schritten zu einem ethischen Urteil

Wie kommen wir in der Ethik zu Handlungsentscheidungen? Und wie geht man vor, um ausgewogen ethisch urteilen zu können? Diese und ähnliche Fragen sind sehr wichtig, wenn Ethik in unserem Alltag praktische Relevanz haben soll. In den letzten Jahren wurden daher zahlreiche Modelle entwickelt, die bei der ethischen Urteils- bzw. Entscheidungsfindung helfen sollen. Die Modelle liefern keine Musterlösungen, sie stellen vielmehr eine Methode bzw. ein Instrumentarium bereit, wie im Falle eines moralischen Konflikts Argumente gefunden und abgewogen sowie Lösungen erarbeitet werden können.

Ethik bietet Orientierung

Ethik möchte Orientierung bieten, so wie man sich an einem Kompass orientieren kann, um den richtigen Weg zu finden.

Foto: Jaypee, Wikimedia Commons

Ethische Entscheiungsfindung

Ethische Entscheidungsfindung – Ein Handbuch für die Praxis. In dem Buch von Barbara Bleisch und Markus Huppenbauer wird ein fünfschrittiges Schema vorgestellt, wie man zu einem ethischen Urteil kommt.

Foto: Versus Verlag, Zürich

Entscheidungssituationen, in denen ein positives Ergebnis für alle Beteiligten durch keine Handlung herbeigeführt werden kann und in denen dennoch für alle möglichen Handlungsalternativen gute Gründe angeführt werden können, werden in der Philosophie Dilemmata genannt. Ein Beispiel dafür sind Entscheidungen, bei denen Umweltschutzaspekte gegen kulturelle oder ästhetische Werte abgewogen werden müssen: Soll ein alter Bauernhof abgerissen und durch ein neues Energie-effizientes Gebäude ersetzt werden? Oder ist der Bauernhof Teil eines schützenswerten Landschaftsbilds? In solchen Fällen ist ein besonderes Maß an ethischer Reflexion notwendig: Die Ethik kann helfen, die in Frage kommenden Handlungsalternativen hinsichtlich relevanter ethischer Maximen und Prinzipien systematisch zu untersuchen, um so eine Orientierung für eine konkrete Entscheidung anzubieten und die Entscheidung gleichzeitig argumentativ und intersubjektiv überprüfbar zu machen.

Modelle der ethischen Urteilsbildung

Viele dieser im deutschsprachigen Raum verwendeten Modelle der Urteilsbildung gehen auf das Stufenmodell sittlicher Urteilsfindung des Theologen Heinz Eduard Tödt (1918–1991) zurück. Das Besondere an seinem 1977 in der Zeitschrift für evangelische Ethik (ZEE) erstmals veröffentlicheten und später verfeinerten Modell ist, dass es sich intensiv mit der Frage auseinandersetzt „welche Rolle der Umgang mit Normen in dem konkreten Prozeß der ethischen Urteilsfindung spielt“.

Ein vergleichbares Modell, das im Laufe der letzten Jahre entwickelt wurde, ist das Schema der ethischen Entscheidungsfindung der Schweizer Philosophen Barbara Bleisch und Markus Huppenbauer, das 2011 veröffentlicht wurde. Kerngedanke des Modells ist, dass Entscheidungen immer auf dem Boden verlässlicher Standards getroffen werden sollen, so unterschiedlich sie im Endeffekt auch ausfallen mögen. Auf diese Weise ist es möglich, die Entscheidung nachvollziehbar und verständlich zu machen.

Das Schema von Bleisch und Huppenbauer gliedert sich in fünf Schritte: In einem ersten Schritt wird zunächst der Sachverhalt genauer recherchiert, im nachfolgenden Schritt werden die relevanten Fragen und Konflikte herausgearbeitet, um so die moralisch strittige Frage zu formulieren und diese von den nichtmoralischen Aspekten zu trennen (etwa rechtliche Aspekte oder politische Rahmenbedingungen). Im dritten Schritt werden schließlich die relevanten Argumente zusammengetragen und – ähnlich wie im Schema von Heinz Eduard Tödt – mit den moralischen Normen abgeglichen. Die Argumente werden im vierten Schritt gewichtet und kritisch reflektiert, um so zu einem gut begründeten Urteil zu gelangen. Fragen der Umsetzbarkeit, etwa vor dem Hintergrund der rechtlichen Praxis oder der politischen Relevanz, werden im fünften Schritt aufgegriffen.

Ein dreistufiges Modell der ethischen Urteilsbildung

Ausgehend von dem Schema der ethischen Entscheidungsfindung nach Bleisch und Huppenbauer lässt sich ein verkürztes Modell entwickeln, das sich insbesondere für den Einsatz in Schule und Studium oder für die private Fortbildung eignet. Dieses Schema, das nachfolgend vorgestellt werden soll, fasst den zweiten und dritten Schritt des Schemas von Bleisch und Huppenbauer zusammen und verzichtet auf den Schritt der Implementierung.

1. Schritt: Was ist der Fall?

  • Auflisten der Fakten: Zunächst werden für eine bestimmte moralische Dilemmasituation alle relevante Fakten und Informationen gesammelt und diese kritisch hinterfragt. Es sollen auch das geltende Recht und der Kontext des Falles berücksichtigt werden.
  • Identifizieren der Stakeholder: Alle relevanten Personengruppen und Personen, die bestimmte Interessen haben und miteinander streiten, werden für den jeweiligen Fall gesammelt und näher untersucht. Die Leitfrage lautet: Wer meldet welche Interessen an?
  • Entwickeln von Kontextsensibilität: Es sollte keine vorschnelle Vorverurteilung der Position von involvierten Personengruppen und Personen geben! Stattdessen sollten die gesellschaftlichen, historischen und kulturell-weltanschaulichen Kontexte der Streitfrage geklärt werden, denn dies kann helfen, die unterschiedlichen Positionen zu verstehen.

2. Schritt: Was ist das Problem?

  • Identifizieren der moralisch relevanten Frage(n): Für den Streitfall ist die moralisch relevante Frage zu bestimmen. Eine moralische Frage kennzeichnet sich dadurch, dass sie (1) normativ ist und einen Handlungsbezug aufweist, (2) eine allgemeinverbindliche Lösung verspricht und (3) zentrale Güter und Werte tangiert.
  • Aussortieren nichtmoralischer Aspekte: Vor der Analyse der Argumente müssen mögliche außermoralische Konflikte etwa über empirische Fragen aussortiert werden. Häufig stehen Wissenskonflikte im Vordergrund eines Dilemmas, beispielsweise beim Konflikt über Risiken der Gentechnik. Wissensfragen sind in solchen Konflikten zwar fundamental wichtig, jedoch kann die Ethik hier keine Antworten geben, dies wäre Aufgabe der Naturwissenschaft.
  • Aufführen der Argumente: Über die identifizierten Positionen der involvierten Personengruppen und Personen können moralisch relevanten Argumente herausgefiltert werden. Diese können mit Blick auf den Streitfall in pro oder contra eingeordnet werden.
  • Welche ethischen Probleme wollen die Argumente lösen? Abschließend wird untersucht, welche Normen und Werte durch die identifizierten Argumente angesprochen werden. Diese Argumente können bestimmten normativen Theorien zugeordnet werden, wie beispielsweise (1) Konsequentialismus, (2) Deontologie oder (3) Tugendethik.

3. Schritt: Wie fällt das Urteil aus?

  • Einnehmen eines ethischen Standpunkts: Im letzten Schritt wird schließlich ein ethisches Urteil gefällt. Es ist darauf zu achten, dass man hierbei einen ethischen Standpunkt einnimmt: So muss sich das getroffene Urteil dadurch auszeichnen, dass es (1) universal und nicht persönlich, (2) unvoreingenommen und nicht vorurteilsbehaftet sowie (3) unparteiisch ist.
  • Beurteilen und gewichten der Argumente: Für die Urteilsbildung ist es fundamental, dass die identifizierten Argumente hinsichtlich ihrer Plausibilität und Überzeugungskraft beurteilt werden. Ferner müssen die den Argumenten zugrundeliegenden Güter und Werte in einer Güterabwägung gewichtet werden.
  • Fällen eines Urteils: Sind die Argumente kritisch reflektiert und die zugrundeliegenden Güter und Werte in einer Güterabwägung gewichtet worden, so kann man bezogen auf die Streitfrage ein Votum fällen.

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