EUP Plenary Session

Auf dem Weg zu guten Kompromissen? Die neuen genomischen Techniken auf der politischen Agenda

Lange hat es gedauert, bis es in Europa gelang, für die Neuen Genomischen Techniken (NGT) der Pflanzenzüchtung eine Neuregulierung vorzuschlagen. Noch ist die Diskussion nicht abgeschlossen. Doch die Europäische Kommission hat am 07. Juli 2023 einen entsprechenden Vorschlag vorgelegt, der nun in den europäischen Gremien und auch in den nationalen Parlamenten debattiert werden wird. Für eine Analyse der ethischen Aspekte des Themas ist dieser Kompromissfindungsprozess von zentraler Bedeutung. Denn die soziale Aufgabe von Ethik und Politik besteht nun einmal darin, gute Kompromisse zu ermöglichen, auch wenn jeder Akteur dabei Abstriche vom Gewünschten machen muss.

Kompromisse stehen in der Ethik in einem schlechten Ruf. Vor allem solche philosophischen Theorien, die davon ausgehen, das moralisches Handeln ausschließlich vernunftbasiert zu erfolgen hat, hegen einen tiefen Argwohn gegenüber der Möglichkeit „guter“ Kompromisse. Kompromisse, so der Vorwurf, gehören der Welt der Interessen an, nicht der Welt der Gründe. Während man hier vor allem strategisch handelt, soll es die Ethik ausschließlich mit verallgemeinerungsfähigen Argumenten zu tun, die es rechtfertigen, von einem „guten“ Handeln zu sprechen.

„Einen Kompromiss unterschreiben heißt letztlich zugeben, dass Dissense unseren Alltag bestimmen; und wenn sie sich nicht durch Dialog und guten Willen beilegen lassen, bedeutet das nicht notwendig, dass eine Partei auf dem Holzweg ist, sich blenden lässt, sich im Irrtum befindet oder uneinsichtig ist.“ Veronique Zanetti: Spielarten des Kompromisses (2022), S. 17.

Im universitären Seminar mag dies ein guter Weg sein, um den Seminaristen die Unterscheidung zwischen „gut“ und „böse“ im normativen Sinne zu erklären. In der politischen Wirklichkeit herrschen allerdings Regeln und Bedingungen, die gemeinsames Handeln möglich machen sollen, obwohl dabei jeder von seinen Interessen und auch guten Gründen Abstriche machen muss. Insofern repräsentieren Kompromisse – aus der Sicht von Konfliktparteien – immer die zweitbeste Wahl. Sie sind der Notwendigkeit geschuldet, sich einigen zu müssen, auch wenn das Optimum nicht erreichbar ist.

So funktionieren Demokratien eben: Entscheidungen werden von Mehrheiten getroffen und diese sind umso tragfähiger, je mehr es gelingt, auch abweichende oder konträre Positionen zu berücksichtigen. Gute Kompromisse können lange anhalten, faule Kompromisse meist nur so lange, bis die Mehrheiten wieder wechseln. Doch wie könnten im Streit um die Regeln für Pflanzen, die mit neuen genomischen Techniken – kurz: NGT – entwickelt wurden, solche guten Kompromisse gefunden werden?

Gibt es bei neuen genomischen Techniken die Möglichkeit eines guten Kompromisses?

Seit über 30 Jahren wird in den europäischen Ländern über die sogenannte grüne Gentechnik diskutiert. Die Regeln für den Umgang dafür, wie sie in der Freisetzungsrichtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates getroffen wurden, spiegeln den naturwissenschaftlichen Wissensstand und die polarisierten Debatten der 1990er Jahre wider. Im Jahr 2001 wurde dann mit der überarbeiteten EU-Richtlinie ein erster Kompromiss getroffen. Seitdem hat sich in der molekularen Pflanzenforschung sehr viel verändert. Und das Urteil des Europäischen Gerichtshofes aus dem Jahr 2018 hat deutlich gemacht, dass der damals gefundene Kompromiss mit der Realität wissenschaftlicher Forschung und den Anforderungen an eine nachhaltige Landwirtschaft nicht mehr kompatibel ist. Deshalb befürworten heute nicht nur Wissenschaftler und Pflanzenzüchter, sondern auch Landwirte und Verbraucher einen besseren Kompromiss.

Der Hauptgrund für diesen Sinneswandeln sind neue technischen Verfahren, die mit der „alten Gentechnik“ nichts mehr gemein haben, obwohl sie durch menschliches Handeln induziert werden. Der Sache nach sind die neuen genomischen Techniken moderne Mutagenesetechniken mit dem Hauptunterschied, dass sie – im Unterschied zu der Hervorbringung ungerichteter Mutationen durch den Einsatz chemischer Stoffe oder ionisierender Strahlen – zielgerichtet sind. Ein echter Fortschritt, gerade auch was die Risikobeurteilung betrifft!

„Individuelle Selbstbestimmung ohne soziale Freiheit ist nicht in der Lage, in Gesellschaften eine gemeinsame Willensbildung zu befördern. Freiheit bleibt auf Kooperation angewiesen. Das jedenfalls erscheint mir die Herausforderung auch für das Verständnis von Wahlfreiheit im Umgang mit genomeditierten Pflanzen zu sein.“
Stephan Schleissing: Wahlfreiheit und Genomeditierung. Ethische Überlegungen zur Kennzeichnung von GVOs, in: TTN-Edition „Freiheit“ (2023), S. 20.

Auf Initiative der großen Wissenschaftseinrichtungen in Europa, aber auch der Saatgutindustrie, vieler Pflanzenzüchter und Bauernverbände hat die Europäische Kommission nun einen Vorschlag für eine Neuregulierung der neuen Mutagenesetechniken unterbreitet. Das zentrale Motiv lautet: Differenzierung, und zwar sowohl nach wissenschaftlichen Kriterien als auch nach sozioökonomischen Interessenlagen. In der öffentlichen Debatte, die zumeist den Regeln der Entweder/Oder beim Thema der Gentechnik folgt, werden die höchst bedeutenden Feinheiten des Kompromisses meist nicht sichtbar. Deshalb ist es hier gerade aus ethischer Sicht wichtig, die Eigenarten dieses Kompromissvorschlages im Hinblick auf seine Chancen, aber auch Grenzen präzise zu würdigen.

Innovation und Vorsorge fördern: Die neuen genomischen Techniken für die Landwirtschaft

Wie urteilen heute die Wissenschaften über die neuen genomischen Techniken? Kann man sie mit den klassischen Züchtungstechniken vergleichen? Und wenn man damit Umwelt und Klima besser schonen kann, heißt das dann auch, dass ihr innovativer Charakter sehr wohl der Zukunftsvorsorge dient? Und wie blicken die Bürger und Verbraucher Europas, aber z.B. auch die Landwirte in den afrikanischen Ländern auf die Diskussionen, die wir in Europa führen?

Diese Fragen und Themen wurde vom 21.-22. Februar 2024 auf einer Expertentagung in der Evangelischen Akademie Tutzing diskutiert, die in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Christliche Sozialethik der LMU München und dem Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften stattfand. Im Anschluss wurde ein Tagungsfilm erstellt (vgl. rechts), in dem sich drei Kernbotschaften finden:

  1. Pflanzenzüchter wollen mit den NGT arbeiten, wenn sie zur Verbesserung einer nachhaltigen und produktiven Landwirtschaft beitragen.
  2. In der öffentlichen Diskussion verdeckt die Fokussierung auf das Vorsorgeprinzip und die Wahlfreiheit den Blick auf die möglichen Verbesserungen, die die NGT für die Erreichung der Ziele des europäischen Green Deal bedeuten können.
  3. In ethischer Hinsicht ist die pauschale Moralisierung des Gebrauchs von NGT ein echtes Übel. Statt vor Gefahren zu warnen, wäre es besser die unterschiedlichen Interessen, wie sie z.B. die Biobranche und die konventionelle Landwirtschaft charakterisieren, in den Blick zu bekommen. Und dann zu fragen, welche Kompromisse aus wissenschaftlichen, aber eben auch sozioökonomischen Gründen verantwortbar sind.

Foto oben: Europäische Union / Quelle: EP

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