eingezäunte Wiese

Mannigfaltigkeit als Wert –
Wie weit soll man Vielfalt in Natur und Kultur schützen?

Ethik hat nicht nur mit einzelnen moralischen Problemen oder technischen Anwendungen zu tun. Immer geht es zugleich auch um eine Stellungnahme zur Welt, wie wir sie als Ganzes erleben. Wenn von biologischer und kultureller Mannigfaltigkeit die Rede ist, wird auf die Vielfalt des Lebens insgesamt Bezug genommen. Diese Vielfalt ist Anlass zahlreicher Konflikte. So ist Pluralität im gesellschaftlichen Leben ohne Toleranz und freiheitliche Ordnung nur schwer zu ertragen. Auch in der Natur ist bloßer Wildwuchs bisweilen problematisch. Und doch: Was macht die Mannigfaltigkeit so wertvoll, dass wir sie trotzdem fördern wollen?

„Kulturelle Mannigfaltigkeit hat mit der Wertvorstellung der natürlichen Mannigfaltigkeit die Grundzüge der spontanen Bildung, der ‘Vorgegebenheit’ für absichtliches Handeln und der wechselseitigen Verträglichkeit der ‘Teilnehmer’ gemeinsam.“

Ludwig Siep (* 1942)

„Biophilie: Die unbewußte Neigung des Menschen, die Nähe der übrigen Lebensformen zu suchen. Zur Biophilie kann man auch die Sehnsucht nach der Wildnis zählen, nach all den Gebieten […], die noch nicht von menschlichen Aktivitäten beeinträchtigt sind. […] Wir sind uns selbst noch immer ein Rätsel und entfernen uns immer weiter vom Paradies, wenn wir vergessen, welche Bedeutung die Natur für uns hat. Viele Anzeichen sprechen dafür, daß der Verlust biologischer Vielfalt nicht nur unser physisches, sondern auch unser geistiges Wohlbefinden gefährdet.“

Edward O. Wilson (* 1929)

Mit Mannigfaltigkeit bzw. Vielfalt können sehr unterschiedliche Dinge gemeint sein: So spricht man von Artenvielfalt, von der kulturellen Vielfalt der Menschheit oder von der Produktvielfalt im Supermarkt. Die meisten Menschen bevorzugen beispielsweise vielgestaltige Landschaften mit abwechslungsreichen Landschaftselementen gegenüber monotonen Landschaften. Gleichzeitig wissen wir es zu schätzen, wenn wir im Supermarkt eine große Auswahl an unterschiedlichen Produkten haben, so dass wir uns frei entscheiden können. Und auch Meinungsvielfalt ist Ausweis einer lebendigen und intakten Demokratie. In all diesen Formen drückt sich eine Wertschätzung von Individualität aus, die wir verordneter Gleichheit oder bloß konformem Verhalten vorziehen. Abweichungen sind legitim und schützenswert – in Natur, Kultur und Gesellschaft.

Biologische und kulturelle Mannigfaltigkeit

Wenn von der „natürlichen Mannigfaltigkeit“ die Rede ist, meint man damit meist die biologische Vielfalt, also die Vielfalt des Lebendigen einschließlich des Menschen. Innerhalb der biologischen Mannigfaltigkeit unterscheidet man die genetische Vielfalt (genetische Diversität), die Vielfalt innerhalb einer Art (Speziesdiversität), die Vielfalt der verschiedenen Arten insgesamt (Artendiversität) sowie die Vielfalt der Ökosysteme (Ökosystemdiversität). Die Gesamtheit dieser verschiedenen Formen der biologischen Vielfalt bzw. Mannigfaltigkeit bezeichnet man als Biodiversität. Auf der Konferenz der Vereinten Nationen zu Umwelt und Entwicklung (UNCED) 1992 in Rio de Janeiro wurde ein Übereinkommen über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity) ausgehandelt, das 1993 in Kraft trat.

Auch wenn der Mensch Teil der Lebenswelt und damit der biologischen Vielfalt ist, unterscheidet man von der biologischen die kulturelle Vielfalt. Hierunter versteht man zum einen die Mannigfaltigkeit der menschlichen Volksgruppen und Kulturen sowie der vielfältigen kulturellen Ausdrucksformen und Traditionen. Zum anderen beinhaltet der Begriff der kulturellen Vielfalt in der internationalen Debatte auch Rechte auf Eigenständigkeit und freien Zugang und Teilhabe an Kultur. Auf der Generalkonferenz der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) wurde 2005 die „Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“ (Convention on the Protection and Promotion of the Diversity of Cultural Expressions) verabschiedet, die 2007 in Kraft trat. Laut dieser Konvention haben alle Staaten das Recht auf eigenständige Kulturpolitik.

Mannigfaltigkeit als Wert

Mannigfaltigkeit kann aus sehr unterschiedlichen Gründen als schützenswert angesehen werden. So wird die biologische Vielfalt als wichtiges Reservoir für die Evolution angesehen. Artenvielfalt gilt als vorteilhaft für die Funktion und Stabilität von Ökosystemen. Darüber hinaus werden auch in kultureller Vielfalt entschiedene Vorteile gesehen. So erfreuen wir uns an der reichhaltigen Küche aus verschiedenen Ländern. Die Achtung vor der Vielfalt an Menschen mit ganz verschiedenen kulturellen Hintergründen ist aber auch deshalb so unbestritten, weil sie eng mit der Achtung vor dem Menschen als individueller – also kulturell geprägter – Person verknüpft ist.

Die genannten vorteilhaften Bedeutungen sowohl der biologischen als auch der kulturellen Vielfalt sind ausschließlich instrumenteller bzw. ökonomischer Art. Neben einem instrumentellen Wert kann Mannigfaltigkeit aber auch ein intrinsischer Wert zugeordnet werden, was bedeutet, dass Mannigfaltigkeit – ob nun biologischer oder kultureller Art – in sich wertvoll und daher schützenswert ist. Für den Bereich der Landwirtschaft würde dies bedeuten, dass landwirtschaftliche Eingriffe den Artenreichtum in der Natur möglichst nicht gefährden sollten. Gleichzeitig müsste die Vielfalt der pflanzlichen Kultursorten erhalten werden. Da in Mitteleuropa extensiv bewirtschaftete Agrarlandschaften artenreicher sind als die potenziell natürliche Vegetation (meist Buchenwälder), könnte dies unter Umständen bedeuten, dass eine solche extensive Bewirtschaftung erstrebenswert wäre – und demnach artenarme Wälder abgeholzt werden könnten. Jedoch sind die verschiedenen Landschaftstypen unterschiedlich zu beurteilen: Auch die Vielfalt von Ökosystemen und somit von Landschaften kann neben der Artenvielfalt als ein intrinsischer Wert angesehen werden. Es ist also sehr genau zu unterscheiden, was man mit Vielfalt meint. Von zentraler Bedeutung ist dies für Fragen der Koexistenz von konventionellem oder ökologischem Pflanzenanbau und dem Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen. Bei der Suche nach einem Maßstab ist es offensichtlich, dass natürliche und kulturelle Mannigfaltigkeit als Wert immer zusammenwirken.

Wie kann man Mannigfaltigkeit als Wert begründen?

So sehr Vielfalt in Natur und Kultur anerkannt ist, so schwierig ist es, dies auch unwiderlegbar zu begründen. Für den US-amerikanischen Insektenforscher Edward O. Wilson (* 1929) gibt es im Menschen so etwas wie ein Bedürfnis nach Vielfalt bzw. Mannigfaltigkeit und nach dem Lebendigen insgesamt, wie er dies in seiner 1984 formulierten Biophilie-Hypothese begründet (vgl. Zitat). Offensichtlich gründet die Wertschätzung von Vielfalt in bereichernden Erfahrungen, die nicht allein über den Nutzen, sondern eben auch ästhetisch zu beschreiben sind. Dies erklärt auch die enge Wechselseitigkeit von biologischer und kultureller Vielfalt in der Wahrnehmung, wie dies vom deutschen Philosophen Ludwig Siep (* 1942) betont wird (vgl. Zitat). Denn wir erklären und bewerten „Natur“ durch die Brille unserer kulturell gewachsenen Wertvorstellungen und umgekehrt.

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