Planet Erde

Das Vorsorgeprinzip –
oder: Wie viel Vorsorge braucht verantwortbare Innovation?

Drohen große Schäden, ist Vorsorge ratsam. Dies gilt im Umweltschutz, wie auch in anderen Bereichen. Doch hat ein Staat das Recht Einzelpersonen oder Unternehmen am Einsatz oder der Erforschung bestimmter Technologien zu hindern oder dies zu regulieren, um Schäden zu verhindern? Und wenn ja, gilt dies auch, wenn weitestgehend unklar ist, welche Gefahren und in welchem Ausmaß sie drohen? Das Vorsorgeprinzip in seiner politischen, rechtlichen und ethischen Spielart fordert genau dies: das Recht, Freiheiten bestimmter Akteure einzuschränken, um vorsorglich Schäden abzuwenden und zwar gerade dann, wenn die Technikfolgen nicht klar vorhergesehen werden können.

Das Vorsorgeprinzip und insbesondere seine genaue Auslegung sind keineswegs unumstritten. Wer muss eigentlich nachweisen, dass eine Technologie (un-)bedenklich ist? Was ist eine angemessene Form der Vorsorge? Genügen bereits einige verschärfte Auflagen für den Einsatz einer Technologie oder eine begleitende staatliche Kontrolle? Oder meint Vorsorge im Zweifel: Einsatzverzicht beziehungsweise die vollständige Niederlegung der Erforschung einer Technologie?

Eine kurze Geschichte des Vorsorgeprinzips

Das Vorsorgeprinzip tritt zunächst als umweltpolitischer Grundsatz auf. „Umweltschutz darf nicht nur auf bereits eingetretene Schäden reagieren, sondern muss durch Vorsorge und Planung verhindern, dass in Zukunft Schäden überhaupt entstehen.“ So heißt es im Umweltprogramm der Bundesregierung von 1971. In den 1980er Jahren findet das Vorsorgeprinzip Einzug in das internationale Recht. Hier stellt insbesondere die 2. Internationale Konferenz zum Schutz der Nordsee von 1987 einen Paradigmenwechsel vom Schutzprinzip hin zum Vorsorgeprinzip dar: Nicht mehr der Schutz vor akuten Gefahren steht im Fokus, sondern es wird ein langfristiger Blick eingefordert.

Deutlich betont und inhaltlich bestimmt wurde das Vorsorgeprinzip im Grundsatz 15 der Erklärung von Rio zur Umwelt und Entwicklung aus dem Jahr 1992. Dort heißt es: „Zum Schutz der Umwelt wenden die Staaten im Rahmen ihrer Möglichkeiten weitgehend den Vorsorgegrundsatz an. Drohen schwer wiegende oder irreversible Schäden, so darf ein Mangel an vollständiger wissenschaftlicher Gewissheit kein Grund dafür sein, kostenwirksame Maßnahmen zur Vermeidung von Umweltverschlechterungen aufzuschieben.“ Diese Erklärung wird im Vertrag zur Europäischen Union im selben Jahr weitestgehend übernommen. Dort heißt es, dass „eine fehlende Gewissheit, angesichts des gegenwärtigen wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisstandes, die Beschließung wirksamer, wirtschaftlich tragbarere Maßnahmen zur Verhütung von schwerwiegenden und irreversiblen Umweltschäden nicht verzögern darf.“

„Der Ausgangspunkt meiner Argumentation ist, dass das Vorsorgeprinzip in seinen stärksten Formulierungen tatsächlich inkohärent ist, und zwar aus dem folgenden Grund: Jede soziale Situation birgt Risiken. Deshalb wirkt das Prinzip lähmend; es verbietet uns genau jene Maßnahmen, die es fordert. Da jede Vorgehensweise Risiken birgt, verbietet das Vorsorgeprinzip sowohl ein Tätigwerden als auch ein Nichttätigwerden und alles, was dazwischen liegt. […]“

Cass R. Sunstein: Gesetze der Angst (2007), S. 14.

Ein deutlich stärkeres Verständnis des Vorsorgeprinzips wird insbesondere von Nicht-Regierungsorganisationen, wie von Wingspread, 1998 vertreten. „When an activity raises threats of harm to human health or the environment, precautionary measures should be taken even if some cause and effect relationships are not fully established scientifically. In this context the proponent of the activity, rather than the public, should bear the burden of proof.” Hier wird explizit gefordert, dass das Vorsorgeprinzip selbst dann greift, wenn die drohende Gefahr sich noch nicht vollständig wissenschaftlich hat erhärten lassen. In diesem Fall müsse die Unbedenklichkeit einer Technologie von dem Anmelder einer Innovation selbst dargelegt werden, d.h. es ist nicht mehr Staat, der erst nachweisen muss, dass ein präventives Eingreifen durch einen Bedenklichkeitsnachweis legitimiert ist.

Vorsorge, Gentechnik und die neuen Pflanzenzüchtungstechnologien

Die Anwendung des Vorsorgeprinzips bei der Risikobewertung der (wissenschaftlichen) Freisetzung und Inverkehrbringung von gentechnisch veränderten Organismen (GVOs) in die Umwelt regelt die sogenannte EU-Freisetzungsrichtlinie 2001/18 des Europäischen Parlaments und des Rates. Dort wird in Anhang II festgehalten, dass eine Umweltverträglichkeitsprüfung von GVOs „in wissenschaftlich fundierter und transparenter Weise auf der Grundlage wissenschaftlicher und technischer Daten durchzuführen“ ist. Um potenzielle Risiken zu bewerten, bestimmt die Richtlinie, dass eine wissenschaftliche Risikobewertung immer vergleichend vorzugehen hat: „Die etwaigen schädlichen Auswirkungen erkannter Merkmale von GVOs und deren Verwendung sind mit den etwaigen schädlichen Auswirkungen der ihnen zugrunde liegenden, unveränderten Organismen und deren Verwendung in einer entsprechenden Situation zu vergleichen.“ An einem vergleichenden Bewertungsansatz (comparative approach) führt schon deshalb kein Weg vorbei, weil Risiken nicht „absolut“, sondern nur in bestimmten Kontexten angesichts selbst gewählter Nutzenerwartungen bestimmt werden können.

Obwohl die Biosicherheitsforschung im Falle der grünen Gentechnik in den vergangenen 20 Jahren keine größeren Schäden für Umwelt und Gesundheit feststellen konnte, als dies mit konventioneller Landwirtschaft der Fall ist, gilt die Anwendung des Vorsorgeprinzips in der Freisetzungsrichtlinie weiterhin. Könnte sich dies nun beim Einsatz der sogenannten Neuen Pflanzenzüchtungstechnologien (New breeding techniques NBT) ändern? Konkret: Wie verschieden sind die Methoden des Genome Editing im Vergleich zur üblichen Praxis der Mutagenese, die nach dem Anhang I B der EU-Freisetzungsrichtlinie 2001/18 von der verschärften Risikobewertung nach dem Vorsorgeprinzip ausdrücklich ausgeschlossen sind? Und wenn die Verschiedenheit sich nur auf die unterschiedlichen Methoden, nicht aber auf die dadurch hervorgebrachten Ziele – in beiden Fällen: Mutationen in der Pflanze – beziehen, müssen sie dann trotzdem unterschiedlich reguliert werden? Die Frage, wie die Neuen Pflanzenzüchtungstechnologien in der Perspektive des Vorsorgeprinzips behandelt werden soll, hängt zumindest in ethischer Sicht stark davon ab, welche Lesart des Vorsorgeprinzips zur Anwendung kommen soll.

Ein Prinzip und viele Lesarten – Was genau besagt das Vorsorgeprinzip?

Bereits der kurze Blick auf die Geschichte des Vorsorgeprinzips hat unterschiedliche zum Teil gegensätzliche Interpretationen des Prinzips gezeigt. Klaus Peter Rippe hat die unterschiedlichen Interpretationstendenzen gruppiert, indem er zwischen starken und schwachen Lesarten unterscheidet (Rippe 2001). Als tendenziell unstrittige Grundbestimmung des Vorsorgeprinzips bietet er folgende Formulierung an: „Das Vorsorgeprinzip legitimiert den Staat, in die Freiheiten und Rechte von Einzelpersonen, Unternehmen und Verbänden einzugreifen, um langfristig drohende schwerwiegende oder irreversible Schäden zu vermeiden.“ (Rippe 2001, 2) Diese Grundbestimmung erlaubt nun die unterschiedlichen Auslegungen:

„Was wir nicht wollen, wissen wir viel eher als was wir wollen. Darum muss die Moralphilosophie unser Fürchten vor unserm Wünschen konsultieren, um zu ermitteln, was wir wirklich schätzen; und obwohl das am meisten Gefürchtete nicht notwendig auch das Fürchtenswerteste ist, und noch weniger notwendig sein Gegenteil das höchste Gut […] – obwohl also die Heuristik der Furcht gewiss nicht das letzte Wort ist, so ist sie doch ein hochnützliches erstes Wort und sollte zum Vollen Ihrer Leistung genutzt werden […].“

Hans Jonas (1979): Das Prinzip Verantwortung, 1984, S. 64.

Eine starke Lesart wird mit der Forderung einer Umkehr der Beweislast verbunden. „Der Befürworter eines potentiell gefährlichen Produkts oder einer solchen Technik muss nachweisen, dass seine Technik bzw. sein Produkt nicht gefährlich ist.“ (Rippe 2001, 6) Gängig ist dies bereits für Arzneimittel, Schädlingsbekämpfungsmittel und Lebensmittelzusatzstoffe. Hier wird zunächst von der Schädlichkeit der Produkte ausgegangen, solange bis hinreichende Beweise für die Unschädlichkeit vorliegen. Daran schließt sich unmittelbar die Frage nach dem Maßstab für einen hinreichenden Unschädlichkeitsnachweis an. Hier wird bei einer starke Lesart des Vorsorgeprinzips die Bedeutung des sogenannten „Nichtwissens“ hervorgehoben: Die wissenschaftliche Forschung gelangt prinzipiell nie an ein Ende. Es ist deshalb eine Wertentscheidung, was als ausreichende Risikobeurteilung gelten kann. Ein starkes Vorsorgeprinzip-Verständnis fordert deshalb eine hohe Sicherheit ein, um neue Techniken und Produkte zuzulassen. Es ist jedoch fraglich, ob im Rahmen wissenschaftlicher Praxis eine derartig starke Sicherheit gewährleistet werden kann. So kann eine starke Lesart des Vorsorgeprinzips schnell in eine grundsätzliche Wissenschaftskritik münden, da die Wissenschaft letzte Zweifel nicht ausräumen kann. Gibt man vor diesem Hintergrund immer der schlechtesten Prognose den Vorrang, folgt also einer Heuristik der Angst (Jonas 1979), droht die Beweislastumkehr jegliche neue Technik oder neue Produkte zu verhindern. Ein definitiver Nachweis der Unschädlichkeit ist ja nahezu ausgeschlossen. Daraus folgt die Grundtendenz, im Zweifelsfall stets zur Innovationsenthaltung zu plädieren, was sich mit dem Grundsatz Enthalte dich im Zweifel wiedergeben lässt.

Demgegenüber steht die schwache Lesart. Auch durch diese Lesart sollen staatliche Eingriffe zur Vorsorge legitimiert werden, jedoch liegt die Beweislast für die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadens beim intervenierenden Staat. Ohne Gründe für die Annahme einer drohenden Schädigung, kann der Staat nicht verbieten oder regulierend eingreifen. Damit wird auch ein Teil der Risikoanalyse an den Staat überantwortet. Die angeordneten Vorsorgemaßnahmen sollen darüber hinaus stets dem vorliegenden Risiko angemessen sein. So sind staatliche Auflagen zur Risikominimierung oder zur langfristigen Überwachung neuer Technologien oder Produkte eher zu erwarten als vollständige Verbote. Die schwache Lesart des Vorsorgeprinzips lässt sich demnach durch den Grundsatz Sorge vor, aber handle wiedergeben.

Des Weiteren ist auslegungsbedürftig, was als großer oder irreversibler Schaden gelten kann. Während die Grenzziehung für große Schäden einer praktikablen Setzung bedarf, kann die Frage nach der Irreversibilität von Schäden zwei verschiedene Bedeutungsaspekte annehmen: Einerseits kann ein irreversibler Schaden dann vorliegen, wenn ein Gut unwiederbringlich verloren geht, z.B. das vollständige Aussterben einer Pflanzenart. Andererseits kann ein irreversibler Schaden auch dann vorliegen, wenn eine losgetretene Entwicklung nicht mehr zu stoppen ist und die Verantwortlichen keine Möglichkeit mehr haben, die nun eingetretenen Schäden in ihren Auswirkungen zumindest zu begrenzen. Aber: Folgt die Evolution eigentlich selber dem Grundsatz eines absoluten Erhalts von Arten? Wie schädlich ist tatsächlich der Wandel des natürlichen Artbestands, der sowohl Verdrängung und Verlust von Arten als auch die Entstehung neuer Arten kennt? Vertreter einer starken Lesart des Vorsorgeprinzips votieren beim Thema der grünen Biotechnologie hier nicht selten für einen ausgesprochen konservativen Schutz beim Thema Biodiversität.

Die unterschiedlichen Lesarten des Vorsorgeprinzips können auch situationsrelativ kombiniert werden, z.B. dann, wenn im Regelfall eine schwache Lesart vertreten wird und erst bei starken Indizien für große oder irreversible Schäden die Beweislast auf Technik- oder Produktvertreterinnen überantwortet wird. Da das Vorsorgeprinzip gerade in Situationen der unklaren Handlungsfolgen greifen soll, braucht es ein Modell ausreichender prima-facie-Gründe, das in Fällen von wissenschaftlicher Unsicherheit angesichts langfristiger Technikfolgen einen begründeten Verdacht erhärten kann. Denn ein überzeugendes Verständnis des Vorsorgeprinzips muss auch auf einen prinzipiellen Inkonsistenzvorwurf reagieren können: Der Vorwurf kritisiert, dass das Vorsorgeprinzip einerseits ausreichend gesicherte Gründe für legitime Interventionen erfordert und andererseits gerade dann greifen solle, wenn – aufgrund wissenschaftlicher Unsicherheit hinsichtlich von Technikfolgen – keine gesicherten Gründe für Interventionen vorliegen. Es ist außerdem zu bestimmen, welche Instanzen für die Beurteilung legitimer Vorsorgemaßnahmen angehört werden sollen: Gilt es lediglich den common sense der scientific community abzufragen oder müssen auch Außenseitermeinungen Beachtung finden? Sind hier neben wissenschaftlichen Positionen auch politische oder weltanschauliche Vorbehalte einzubeziehen? So könnte es z.B. sein, dass ein gentechnikfreier Maisanbau dadurch unmöglich wird, dass genveränderter Mais so massiv viel günstiger und ertragreicher ist als ein gentechnikfreier Mais. Sollte in diesem Fall nicht wegen möglicher Schäden, sondern aus Gründen der Koexistenz unterschiedlicher Anbauweisen das Vorsichtsprinzip zum Zuge kommen, um die Agrobiodiversität zu schützen?

Vorsorge und Innovation

Die zuvor aufgeworfenen Fragen zum genauen Verständnis des Vorsorgeprinzips gewinnen an Dringlichkeit, wenn Kosten der Vorsorge (Munthe 2013) in die Beurteilung des Vorsorgeprinzips einbezogen werden. Für die Anwendung der Vorsorge ist ein Preis zu bezahlen, der sich nicht allein aus unmittelbaren finanziellen Kosten von Vorsorgemaßnahmen ergibt: Vorsorgemaßnahmen verhindern oder verzögern den Einsatz neuer Technologien und Produkte, die unter Umständen menschliche Nöte besser bewältigen ließen und akute Probleme lösten. Christian Munthe betont daher, dass diese Kosten der Vorsorge selbst legitimiert sein müssen, wenngleich er klar davon ausgeht, dass sich diese Kosten legitimieren lassen. Übermäßigen Vorsorgemaßnahmen ist damit jedoch eine Grenze gesetzt. Durch eine Güterabwägung kann der Wert einer Technikinnovation für die Beseitigung anderer schwerwiegender Probleme in einen argumentativen Austausch mit den möglichen Umweltrisiken gebracht werden. Die Bestimmungen von Grenzen tragbarer Risiken und akzeptabler Vorsorgekosten involvieren immer auch Wertentscheidungen, die politisch ausgehandelt werden müssen. Daher fordert die Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich die Stärkung des politischen Bewusstseins im Umgang mit Technologien (EKAH 2018), denn die grundlegenden Wertentscheidungen müssen in einer demokratischen Gesellschaft von den Bürgerinnen und Bürgern getroffen werden.

„Das Paradox der Innovation liegt darin, dass sie etwas voraussetzt, das sie erneuert.“

Bernhard Waldenfels (1990): Der Stachel des Fremden, S.96

Ein entscheidender Vorwurf gegen das Vorsorgeprinzip ist, dass es für sich genommen innovationsfeindlich sei. Technik- und Produktinnovation sind stets mit einem gewissen Maß an Risiken verbunden, die nicht gänzlich vorhersehbar sind. Eine zu starke und einseitige Orientierung an der Vorsorge droht vor diesem Hintergrund Innovation zu unterdrücken. Detlef Bartsch (2017) problematisiert z.B. diese innovationsfeindlichen Tendenzen des Vorsorgeprinzips folgendermaßen: Die zunehmende Zahl der Menschen und ihre Auswirkung auf den Ressourcenverbrauch sowie menschengemachte Bedrohungen wie ein globaler Klimawandel, Armut, epidemische Krankheiten usw. erfordern den umsichtigen Einsatz neuer Technologien, die gegenüber derartigen Herausforderungen nachhaltig gutes Leben ermöglichen. Angesichts der zunehmenden Herausforderung ist technologischer Stillstand immer auch ein Rückschritt. Daher soll dem Vorsorgeprinzip ein Innovationsprinzip zur Seite gestellt werden, das eine umfassende Berücksichtigung des Werts von Innovation in die Abwägung von Vorsorgemaßnahmen integriert. Doch auch die Integration eines Innovationsprinzips ist vielseitiger Kritik ausgesetzt: Ein Innovationsprinzip weiche das Vorsorgeprinzip nur auf und mache es schließlich unwirksam und bediene damit nur industrielle Interessen, so ein oft geäußerter Einwand. Die Gefahr einer Zementierung des technologischen Status quo durch ein zu stark verstandenes Vorsorgeprinzip ist jedoch schwer als ein alleiniges Konstrukt industrieller Protagonisten abzutun. So problematisierte der Generalanwalt Michal Bobek anlässlich eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes zum italienischen Anbauverbot des MON 810-Mais im Jahre 2017 die Anwendung des Vorsorgeprinzips mit folgenden Worten:

„Das Vorsorgeprinzip rechtfertigt Vorsorgemaßnahmen zur Vermeidung von Risiken, die aufgrund wissenschaftlicher Unsicherheit noch nicht vollständig festgestellt oder nachvollzogen worden sind. Definiert man das Prinzip in einem solchen umfassenden Sinne, könnte es so ausgelegt werden, dass es eine große Bandbreite von Risiken umfasst, die eine Vielzahl verschiedener Belange gefährden, ob es sich nun um die Umwelt, Gesundheit, öffentliche Sicherheit, soziale Gerechtigkeit oder gar um die Sittlichkeit handelt. Wenn man einem solchen weiten Verständnis den Vorzug gibt, besteht die Schwierigkeit allerdings darin, zu bestimmen, wo die Grenze zu ziehen ist, um zu verhindern, dass sich das Vorsorgeprinzip zu einer universellen Formel zur Verhinderung von Innovation verwandelt. Denn per definitionem impliziert Innovation gemessen am vorhandenen Wissen Neuheit.“

Trotz der verbreiteten Wertschätzung von Vorsorge sind die konkrete Umsetzung, die Legitimation und die Grenzen des Vorsorgeprinzips umstritten. Die Diskussion weist sowohl auf den Wert präventiver Maßnahmen hin, die das Vorsorgeprinzip begründet als auch auf bedenkliche Folgen eines dogmatischen Verständnisses von Vorsorge, deren Maßnahmen durch wissenschaftliche Forschung nicht mehr revierbar, sondern als sakrosankt eingestuft werden. Dabei sind sowohl ethische, rechtliche, wissenschaftliche und politische Aspekte verwoben, als auch vielseitige Interessen präsent. Vor diesem Hintergrund ist nicht zu erwarten, dass die Diskussion um die angemessene Anwendung des Vorsorgeprinzips in naher Zukunft abbricht.

Mario Berkefeld, Stephan Schleissing

Großes Foto oben: Die Erde aus der Internationalen Raumstation ISS; CC0

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