Theorien der Gerechtigkeit –
Wie kann Gerechtigkeit verstanden und gestaltet werden?

Gerechtigkeit ist heute in aller Munde und bestimmt die politischen Debatten der letzten Jahre. So wird soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft angemahnt aufgrund der Beobachtung, dass die Schere zwischen Arm und Reich auseinandergeht. Mit Verweis auf die Generationengerechtigkeit wird eine Debatte über die Zukunft des Rentensystems geführt. Was als gerecht gilt und was nicht, kann sehr unterschiedlich verstanden werden. Dies sorgt mitunter für Verwirrung in den laufenden Debatten.

Wann kann eine Gesellschaft als gerecht bezeichnet werden? Ist der Gerechtigkeit bereits Genüge getan, wenn für gleiche Bildungschancen gesorgt wird? Oder ist Gerechtigkeit erst erreicht, wenn es keine Lohnunterschiede mehr zwischen den Menschen gibt und alle gleich viel besitzen? Was ist das entscheidende Kriterium für das Ausmaß an Gerechtigkeit in einer Gesellschaft? Tatsächlich gibt es auf diese Fragen sehr unterschiedliche Antworten, denn Gerechtigkeit kann sehr verschieden verstanden werden, mitunter gibt es sogar widersprüchliche Interpretationen. Es lohnt sich daher, sich näher mit den verschiedenen Formen von Gerechtigkeit auseinanderzusetzen.

Verschiedene Formen von Gerechtigkeit

Man unterscheidet verschiedene Konzepte und Formen der Gerechtigkeit. Eine klassische Unterscheidung besteht zwischen der Tauschgerechtigkeit und der Verteilungsgerechtigkeit. Von Tauschgerchtigkeit spricht man, wenn man für ein Gut A soviel eines anderen Guts B bekommt, dass die Werte der beiden Güter übereinstimmen. Tauschgerechtigkeit spielt also bei Interaktionen zwischen einzelnen Wirtschaftssubjekten eine Rolle. Bei der Verteilungsgerechtigkeit handelt es sich um die Gerechtigkeit eines Gemeinwesens, z.B. eines Staates, gegenüber seinen Mitgliedern bzw. Bürgern. In diesem Gerechtigkeitskonzept wird ein Zustand als gerecht definiert, in dem allen Mitgliedern einer Gesellschaft der Nutzen dieser Gesellschaft in grundsätzlich gleichem Maße zukommt. Im Vordergrund steht dabei, dass die Verteilung im Ergebnis gerecht ist (Ergebnisgerechtigkeit). Dies hängt jedoch maßgeblich davon ab, dass die Verteilungsregeln gerecht gestaltet sind (Regelgerechtigkeit). Die Verteilungsgerechtigkeit kann zwischen sehr unterschiedlichen Gruppen einer Gesellschaft betrachtet werden. Im Fokus stehen zwar zumeist Menschen unterschiedlicher Einkommensklassen (ökonomische Gerechtigkeit, z.B. Steuergerechtigkeit), aber auch die Verteilung zwischen Jung und Alt (Generationengerechtigkeit) wird häufig diskutiert. Weiterhin kann neben wirtschaftlichen Gütern auch die gerechte Verteilung immaterieller Güter betrachtet werden (z.B. Chancengerechtigkeit). Die Verteilungsgerechtigkeit ist in Form der Bereitstellung von Sozialleistungen und Renten ein zentrales Element moderner Sozialstaaten bzw. des Systems der sozialen Marktwirtschaft.

Gerechtigkeit und Recht stehen in einer engen Beziehung zueinander. Im Rechtsbereich - beispielsweise bei einem Verfahren vor Gericht - ist die Regelgerechtigkeit oder auch Verfahrensgerechtigkeit zentrales Kriterium. Bei der Regelgerechtigkeit wird nach der geltenden Gesetzeslage gefragt, um zu bestimmen, ob eine Gesellschaft als gerecht oder ungerecht zu bezeichnen ist. Sie wird zuweilen als „allgemiene Gerechtigkeit“ den „partikularen“ Gerechtigkeitsformen (Tauschgerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit) gegenübergestellt. Ein Gesetz kann als gercht bezeichnet werden, wenn es in nachvollziehbarer Weise auf einem anerkannten Gerechtigkeitsgrundsatz fusst und für alle Mitglieder der Gemeinschaft gleichermaßen gültig ist. Regelgerechtigkeit kann aber nur wirksam werden, wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft in der Praxis auch tatsächlich denselben Regeln unterworfen werden. In vielen liberalen Theorien der Moderne gilt die Verfahrensgerechtigkeit als zentrales Element von demokratischen Gesellschaften.

Heutzutage wird Gerechtigkeit häufig als eine Form der sozialen Gerechtigkeit verstanden, nämlich als Chancengerechtigkeit. Hierunter versteht man den gerechten und für alle freien Zugang zu den Möglichkeiten der Befriedigung von Grundbedürfnissen. Eine Gesellschaft, die sich als chancengerecht versteht, ist bemüht, für alle Mitglieder die gleichen Zugangsmöglichkeiten zu schaffen. Dies muss nicht bedeuten, dass tatsächlich jeder identische Möglichkeiten hat. Vielmehr sollen mögliche Benachteiligungen, die sich durch eine in der Realität ungleiche Verteilung ergeben, berücksichtigt und gegebenenfalls ausgeglichen werden. Im Unterschied zur Chancengerechtigkeit spricht man von Chancengleichheit, wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft, egal welcher sozialen Schicht sie beispielsweise entstammen, exakt gleiche Chancen erhalten sollen.

Im Unterschied zur Gerechtigkeit wird von Gleichberechtigung gesprochen, wenn es darum geht, alle Menschen und alle gesellschaftlichen Gruppen nicht aufgrund von Geschlecht, Rasse, Religion oder Weltanschauung zu diskriminieren. Gleichbehandlung ist gleichsam die Voraussetzung von Chancen-, Verfahrens- und Verteilungsgerechtigkeit. Eingriffe in die Gleichberechtigung gelten als Diskriminierung, wenn jemand benachteiligt wird, oder Privilegierung, wenn jemand bevorzugt wird. Gleichberechtigung darf nicht mit Gleichheit verwechselt werden, denn in Konzepten der Gleichberechtigung wird durchaus von der Verschiedenheit der Menschen ausgegangen. Diese darf jedoch nicht zu einer ungerechten Behandlung führen.

Gerechtigkeit als Konzept der Ethik

Gerechtigkeit kann aus ethischer Sicht sehr unterschiedlich verstanden werden. Sie kann beispielsweise als Wert oder auch als soziale Regel verstanden werden. Im Sinne eines Wertes oder einer Norm regelt Gerechtigkeit die Beziehungen von Menschen untereinander, d. h. Gerechtigkeit wird bei allen Interaktionen von Menschen handlungsleitend. Sie enthält hier immer auch ein Moment von Gleichheit. Wird Gerechtigkeit als soziale Regel verstanden, so ist sie gleichsam Aufgabe und Ziel etwa bei der Gestaltung einer Gesellschaft oder von Institutionen.

Gerechtigkeit kann aber auch im Sinne einer Tugend verstanden werden. So gilt Gerechtigkeit seit der griechischen Antike als höchste Tugend im sozialen Zusammenleben, als sogenannte Kardinaltugend. In diesem Verständnis ist Gerechtigkeit eine innere Einstellung, nach der ein Akteur seine einzelnen Handlungen ausrichtet. Sie ist im Sinne einer Tugendlehre auch Voraussetzung für ein gutes Leben.

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