Natürlichkeit in der Sicht einer Theologie der Schöpfung

„Bewahrung der Schöpfung“ ist im christlichen Weltverständnisses nicht nur auf Erhaltung, sondern zugleich auf die Weiterentwicklung des Lebens bezogen. Das hat zur Folge, dass sich in der christlichen Ethik die Hochschätzung des Natürlichen nicht mehr an der Differenz zwischen natürlich und künstlich orientiert. Es geht vielmehr um einen Kulturauftrag, in dem Freiheit und Verantwortung am Ort des Menschen zusammengedacht werden. Welche Konsequenz hat dies für die Frage, ob neue Gentechniken als widernatürlich oder aber als hilfreich für einen produktiven und schonenden Umgang mit der Natur angesehen werden?

In der Kontroverse um die Gentechnik spielen Naturvorstellungen eine zentrale Rolle. Regelmäßig entzündet sich an der Frage gentechnischer Eingriffe am Menschen bzw. in die Umwelt die Diskussion, inwiefern damit die Integrität der Natur in einer nicht zu verantworteten Weise verletzt wird. Dabei fällt auf, dass die Wahrnehmung dieses Problems heute auf den Gebieten der „roten“ und der „grünen“ Gentechnik ganz unterschiedlich ausfällt. Angesichts der Erfolge der biomedizinischen Forschung sind für viele Menschen nicht nur Methoden der genetischen Diagnostik, sondern auch die Einnahme von Medikamenten, die mit Hilfe der Gentechnik hergestellt wurden, eine Selbstverständlichkeit. In der Biomedizin hat man längst erkannt, dass die Achtung der Natur des Menschen und die medizinisch unterstützte Erhaltung der Gesundheit mit Hilfe gentechnischer Methoden keine Gegensätze darstellen. Es ist offensichtlich: Wahrnehmungen von Natürlichkeit orientieren sich nicht lediglich an biologischen Eigenschaften, sondern variieren in Abhängigkeit von dem sozialen und ethischen Kontext, in dem sie zum Thema werden.

Warum Technik zur Verantwortung für das Natürliche unverzichtbar ist

Beim Thema der „grünen“ Gentechnik zeigt die Diskussion um die Mensch-Natur-Beziehung häufig einen ganz anderen Verlauf als bei der biomedizinischen Forschung. Insbesondere in der Alltagsmoral wird der „Natürlichkeit“ gegenüber der „Künstlichkeit“ ein Mehrwert zugeschrieben, der nicht zuletzt als Ausdruck einer verbreiteten Verunsicherung beim Umgang mit den Folgen technischer Umweltbearbeitung verstanden werden kann. In dieser Perspektive markiert die Rede von der Natürlichkeit die Grenze zwischen dem von Menschen Gemachten und dem Gewordenen bzw. Gewachsenen. Der Terminus ist primär ein Reflexionsbegriff auf Reichweite und Grenzen menschlichen Handelns und nicht ein Begriff, der an bestimmten biologischen Eigenschaften eines Organismus festgemacht werden könnte. „Natürlich“ bezeichnet dann ein Geschehen, das nicht hergestellt und nicht vollständig kontrollierbar ist. Dieser Aspekt der Abwesenheit menschlicher Intervention in die Natur verbindet sich zugleich mit der traditionsreichen Vorstellung einer „Ordnung der Natur“, die dem Chaos wehrt. Erst in dieser Kombination wird Natürlichkeit für viele zu einem Wert, der um seiner selbst willen zu erhalten ist.

Im christlichen Verständnis von Zeit schließen sich Erneuerung und Stabilisierung nicht aus, sondern bleiben aufeinander bezogen. Hier finden sich strukturelle Parallelen zwischen dem christlichen Topos der Schöpfung und der modernen Ökologie, die diese Evolution dynamisch in der Abfolge ‚stabiler Ungleichgewichte‘ beschreibt.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Rede von der Natürlichkeit als „Wert“ angemessener beschrieben wird, wenn sie in ihrer symbolischen Funktion für das Ganze der natürlichen Ordnung verstanden wird. Dies erklärt auch die durchaus nicht nur im christlichen Kontext verbreitete Forderung, den Schutz der Natur als Auftrag des Menschen zur Bewahrung der Schöpfung zu leisten. In der Sicht des biblischen Schöpfungsverständnisses ist es freilich präziser, den religiösen Topos der Schöpfung nicht nur auf die Natur oder Erde, sondern auf die „Welt“ als Totalität alles Wirklichen zu beziehen. Im Christentum steht dieser Begriff entsprechend für den umfassenden Sinnhorizont, innerhalb dessen sich sowohl der Ursprung der Welt als auch ihre Bewahrung durch den Schöpfer ereignet. Dabei wird in der Bibel die Schöpfung nicht als von Anfang an vollkommen vorgestellt, sondern als zur Entwicklung fähig. Im Neuen Testament findet dies seinen Niederschlag in der Aussage, dass sich durch die Ankunft Jesu Christi eine „Neuschöpfung“ ereignet hat. An dieser metaphorischen Verschränkung von Heils- und Weltgeschichte kann man erkennen, dass die darin zum Ausdruck kommende Vorstellung von Zeit nicht statisch, sondern dynamisch verstanden wird. Erneuerung und Stabilisierung schließen sich nicht aus, sondern bleiben aufeinander bezogen. Hier finden sich strukturelle Parallelen zwischen dem christlichen Topos der Schöpfung und der modernen Ökologie, die diese Evolution dynamisch in der Abfolge „stabiler Ungleichgewichte“ (Josef Reichholf) denkt. Daran kann eine Konzeption von Nachhaltigkeit anknüpfen, die verantwortliches Handeln in der Verschränkung von Innovation und Vorsorge orientiert und insofern Natur und Natürlichkeit nicht als statisches Gleichgewicht, sondern als Prozess entwirft.

Bewahrung der Schöpfung und der Kulturauftrag des Menschen

„Bewahrung der Schöpfung“ ist im Kontext dieser Weltverständnisses nicht nur auf Erhaltung, sondern zugleich auf Weiterentwicklung bezogen. Dabei kommt im Christentum der Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, die dieser nach Gen 1,26f im Unterschied zu allen anderen Geschöpfen verliehen bekommen hat, eine zentrale Rolle zu. Mit dieser Zuschreibung erhält der Mensch im Zusammenhang der Schöpfungserzählung sowohl seine unverlierbare Würde als auch seine Bestimmung zum verantwortlichen Handeln in der Welt. In der Neuzeit wurde die christliche Auslegungsgeschichte des Topos der Gottebenbildlichkeit aufs Engste mit dem Begriff der Menschenwürde verbunden, deren anthropologische Grundierung zugleich als kultureller Bildungsprozess verstanden wurde. Der Mensch als „erster Freigelassener der Schöpfung“ (Johann Gottfried Herder) kam so als ethisch handelndes Subjekt in der Blick: „Das biblische Thema des dominium terrae wird anthropologisch zum Bild des homo faber.“ (Ulrich Barth) Für die christliche Ethik hat dies zur Folge, dass sich die Hochschätzung des Natürlichen im Rahmen des Geschöpflichen nicht mehr an der Differenz zwischen natürlich und künstlich orientiert, sondern als Kulturauftrag manifestiert, in dem Freiheit und Verantwortung am Ort des Menschen zusammengedacht werden. In dieser Perspektive sind das Natürliche als das Gewachsene und das Künstliche als das Gemachte keine absoluten, sondern nur graduelle Gegensätze.

In der christlichen Ethik orientiert sich die Hochschätzung des Natürlichen im Rahmen des Geschöpflichen nicht mehr an der Alternative zwischen natürlich oder künstlich, sondern sie manifestiert sich als Kulturauftrag, in dem Freiheit und Verantwortung am Ort des Menschen zusammengedacht werden.

Es liegt auf dieser Linie, wenn in der gegenwärtigen Naturschutzdiskussion das Natürliche nicht nur unter dem Aspekt des Ursprünglichen oder der ästhetischen Qualität zum Thema wird, sondern auch im Rahmen der Rede von einer „humanen Natur“, für die Fragen der nachhaltigen Nutzung z.B. von Pflanzen, Tieren oder Böden eine Überlebensfrage darstellt. Insofern ist gerade auch im christlichen Verständnis die Züchtung von Pflanzen mit Hilfe neuer Technologien kein bloßes Zeichen einer vermeintlich naturfeindlichen Künstlichkeit, sondern aufgrund ihrer moralischen Zwecksetzung Ausdruck eines verantwortlichen Umgangs mit Natürlichkeit. Diese Offenheit des Begriffs eignet ihm insbesondere aufgrund seiner Bedeutung im Rahmen der traditionellen Rede von einer „Ordnung der Natur“. Weil das Natürliche nicht als isoliertes Einzelnes existiert, ist die Frage seiner kulturell-technisch vermittelten „Einpassung“ in diese Ordnung nicht ein Aspekt, der dem Natürlichen äußerlich ist, sondern im Rahmen der Nutzung durch den Menschen konstitutiv mit der biologischen Verfasstheit allen Lebens verbunden ist.

Ob ein Lebensmittel als natürlich angesehen wird, ist eine Frage des Vertrauens

Die hier skizzierte symbolische Auffassung des Natürlichen macht verständlich, warum technische Artefakte, die seit längerem im Gebrauch stehen und organisch in die soziale Welt integriert sind, nicht per se als unnatürlich erlebt und gedeutet werden. Das kann man gut an der unterschiedlichen Wahrnehmung der verschiedenen Mutagenesetechniken in der Pflanzenzüchtung studieren. Zwar greifen sowohl die ungerichtete Mutagenese, wie sie in der sogenannten konventionellen Züchtung mit ionisierender Strahlung bzw. chemischen Substanzen betrieben wird, als auch die gerichtete Mutagenese mithilfe der Genome Editing-Techniken in das Erbgut eines Organismus ein. Allerdings wird dieser Eingriff in der Wahrnehmung der Verbraucher ganz unterschiedlich bewertet, was nicht nur der Tatsache geschuldet ist, dass nur den wenigsten Konsumenten die Details der technischen Verfahren der Pflanzenzüchtung bekannt sind. Vielmehr signalisiert bereits die Rede von der „konventionellen“ Züchtung, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts weit verbreitet ist und bis heute über 2000 neue Sorten hervorgebracht hat, dass der Faktor der Vertrautheit mit neuen Techniken als zentraler Grund dafür angesehen werden kann, ob eine Kulturpflanze als natürlich oder unnatürlich in Bezug auf die Umweltverträglichkeit wahrgenommen wird.

Wenn das Label ‚Ohne Gentechnik‘ mit der Behauptung einer Naturnähe wirbt, dann wird damit eine Landwirtschaft bezeichnet, deren Produkte als vertrauensvoll angesehen werden.

Geht es beim Thema der Natürlichkeit zentral um den Aspekt des Vertrauens, dann wird auch verständlich, warum in der Diskussion um die Pflanzenzüchtung das Label „Ohne Gentechnik“ seitens der Verbraucher einen so großen Zuspruch erhält. Auch wenn das Marketing dieses Labels die Abwesenheit von „Verunreinigung“ in den Vordergrund stellt, die ihre Ursache in Spuren von gentechnisch verändertem Saatgut haben, zeigen Verbraucherstudien zur Genüge, dass der eigentliche Grund des Unbehagens gegenüber eine gentechnisch verfahrenden Pflanzenzüchtung sehr viel mehr durch das „Bild“ einer intensiven Landwirtschaft hervorgerufen wird, in der ein solcher Anbau global stattfindet. Ganz unabhängig von der Frage, ob dieses negative Image einer industriell betriebenen Saatgutzüchtung angemessen ist, kann man an diesem Sachverhalt doch erkennen, dass es vor allem sozioökonomische und auch umweltbezogene Effekte sind, die hier unter dem Label der Natürlichkeit gehandelt und verkauft werden. Wenn das Label „Ohne Gentechnik“ hier mit der Behauptung einer Naturnähe wirbt, dann wird damit eine Landwirtschaft bezeichnet, deren Produkte als vertrauensvoll angesehen werden.

Auf diesen Zusammenhang weisen auch wissenschaftliche Verbraucherstudien hin, die sich mit dem Phänomen der „Chemophobie“ und der Bedeutung der Natürlichkeit von Lebensmitteln im Hinblick auf die Akzeptanz des Pestizideinsatzes und der Anwendung von Agrarbiotechnologie durch die Verbraucher befassen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Verbraucher am ehesten bereit waren, Gentransfers als Schutzmaßnahme beispielsweise vor einem übermäßigen Pestizideinsatz zu akzeptieren, sofern das Gen von einer Wildsorte der gleichen Art wie die kultivierte Pflanze stammt. Dass die dabei eingesetzte Methode der Cisgenese ein Verfahren der Gentechnik ist, tritt hier nicht in den Vordergrund. Entscheidend ist das Vertrauen in eine Technologie, bei der die natürliche „Identität“ und Ausprägung trotz der Übertragung von Genen erhalten bleibt, auch wenn dabei in das Genom eingegriffen wird.

Wenn wissenschaftlich erwiesen ist, dass genetische Veränderungen, die infolge einzelner Punktmutationen oder Deletionen von Genen erfolgen, auch auf natürliche Weise möglich sind – wie natürlich sind dann Produkte, die daraus entstehen?

Dass neue gentechnische Methoden als besonders vertrauenswürdig angesehen werden, wenn bei ihrem Einsatz auf den Transfer artfremder Gene verzichtet wird, ist auch das Grundanliegen des Cartagena-Protokolls über die biologische Sicherheit, das als Rahmen zur Förderung der internationalen Harmonisierung der Rechtsvorschriften für GVO dient (Cartagena-Protokoll, 2000). In diesem Protokoll wird der Begriff GVO nicht verwendet, sondern ein „lebender veränderter Organismus“ (Living Modified Organism, kurz LMO) definiert als „jeder lebende Organismus, der eine neuartige Kombination von genetischem Material besitzt, das durch moderne Biotechnologie entwickelt wurde“. Nach dem Cartagena-Protokoll reicht der bloße Einsatz einer neuen Technik der modernen Biotechnologie nicht aus, um eine behördliche Aufsicht auszulösen. Der resultierende Organismus muss zusätzlich eine neuartige Kombination von genetischem Material im Endprodukt aufweisen. Dessen genetisches Profil muss über das hinausgehen, was auf natürliche Weise durch Paarung und/oder natürliche Rekombination entstehen kann. Wenn aber wissenschaftlich erwiesen ist, dass genetische Veränderungen, die infolge einzelner Punktmutationen oder Deletionen von Genen erfolgen, auch auf natürliche Weise möglich sind, dann wäre dies ein Weg, die neuen Methoden des Genome Editing zu differenzieren und nur die Entstehung eines neuen, so in der Natur unwahrscheinlichen Organismus als Kriterium einer besonderen Umweltverträglichkeitsprüfung zu erklären.

Die Rede von biologischen, natürlichen und nachhaltigen Organismen beschreiben unterschiedliche Naturzugänge. Wahrnehmungen von Natur und ihre wissenschaftliche Taxonomie sind nicht einfach gleichzusetzen. Aber in ethischer Hinsicht kommt es darauf an, sie füreinander anschlussfähig zu halten, um nicht entweder einem esoterischen oder aber einem szientistisch verengten Verständnis von Natürlichkeit zu erliegen. Gerade die Aussage, dass „Schöpfung“ und „Natur“ nicht einfach identisch sind, ermöglicht ein Verständnis dafür, dass unsere Wahrnehmungen von Natur von einem sowohl gegenständlichen als auch symbolischen Zugang geprägt sind. Die Frage eines verantwortlichen Gebrauchs von Natur wird daher beide Aspekte zu berücksichtigen haben.

Stephan Schleissing


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